Die Geschichte vom Blatt

Es war einmal das große, kräftige Blatt eines Ahornbaums. Die Frühlingssäfte dieses Jahres hatten es gelockt, durch die feste Rinde des Astes zu stoßen. Es hatte sich gereckt und gestreckt immer der Sonne und ihren zunehmend warmen Strahlen entgegen. Über die Wurzeln hatte Mutter Baum reichlich gute Nahrung aus der Erde aufgenommen und ihren Kindern geschickt.

So war auch unser Blatt gewachsen und hatte sich entfaltet. Es sah eigentlich aus wie all die anderen Blätter auch, und doch: bei genauerem Hinsehen war es doch ganz einzigartig in Form, Größe und Farbe. Was aber besonders auffiel, war, dass es sich von der Lage etwas von den anderen Blättern unterschied! Bildeten die anderen eher ein gemeinsames Blätterdach, so hatte unser Blatt einen langen Stengel entwickelt und hob sich etwas von den anderen ab.

Das hatte zur Folge, dass der Wind es immer wieder zum Spielen aufforderte! Schwankten die anderen nur leicht in der Gemeinschaft, so tanzte unser Blatt immer wieder ein Solo, und das mit großer Freude! Das Blatt liebte seine Beweglichkeit und Stabilität, seine Fähigkeit, eins zu werden mit dem Wind und sich ihm ganz hinzugeben. Manchmal wirkte es fast, als wolle das Blatt wie eine große Hand den anderen Wesen des Gartens zuwinken!

„Paß auf dich auf“ riefen die anderen Blätter, „beweg dich nicht so viel, sonst wirst du im Herbst als allererstes vom Baum fallen!“ „Aber ich liebe es, mit Leidenschaft und ganzer Intensität zu leben, und außerdem ist es meine Bestimmung, zu tanzen mit dem Wind!“ erwiderte das Blatt und drehte und bog sich in atemberaubender Weise.

Und als ein heftiger Windstoß im November das Blatt vom Baum fegte, sank es zufrieden zu Boden. Es hatte seiner Bestimmung gemäß gelebt, alles ausgeschöpft und entwickelt, was ihm möglich war und gelernt, sich dem hinzugeben, was ist.